Das Bild als "Reliefbild"
Die Verwendung von aufgeklebter Schnur, als Alternative für die gemalte Linie oder Kontur , ist seit den 80er Jahren ein Merkmal von Ingryda Suokaités Bildern. Während sie in ihren neueren Arbeiten geometrisch bestimmte Farbflächen damit begrenzt, folgten ihre ersten mit Schnur kombinierten Gemälde keinerlei Regelwerk. Es waren noch freie abstrakte Kompositionen mit stark expressivem Ausdruck, bei denen sie dem Schwung der Linie ungezwungenen Lauf ließ.

Seit nunmehr drei Jahren ist ihr Vokabular disziplinierter, es ist geometrischer und konstruktiver, ohne dabei jedoch an expressiver Kraft zu verlieren. Ein tektonischer Bildaufbau aus einfachen Elementarformen wie Quadrat, Rechteck, Dreieck und Kreis bestimmt nun ihre Arbeiten. Monochrome oder strukturierte Farbfelder rhythmisieren die Bildfläche, verleihen ihr Dynamik und Spannung, es entstehen energiegeladene Form- und Farbgefüge. Die Künstlerin zeigt Mut zur Farbe, durchaus auch zu ungewöhnlichen Farbkontrasten. Auch den harten Kontrast zwischen Schwarz und Weiß scheut sie nicht. Ohne wissenschaftlich fundierte Farbgesetze entsteht die Suggestion von Tiefenräumlichkeit und die Illusion einer sanft pulsierenden Bewegung.
Ingryda Suokaité entwickelt in ihren Arbeiten eine unverkennbare, individuelle Bildsprache, indem sie malerische und plastische Ausdrucksformen vereint. Das zweidimensionale Bild bekommt durch die Kombination mit dem Material „Schnur“ eine objekthafte Dreidimensionalität. Die Farbformen werden durch Reliefierung betont, die Kontur aus Schnur legt sich wie ein Rahmen um die Farbflächen, lässt sie haptisch präsent werden, sodass sich auf der Bildfläche ein reizvoller Wechsel zwischen flächigen und plastischen Qualitäten ergibt. Man könnte von einer objekthaften Malerei sprechen, das Gemälde wandelt sich zum Bild-Objekt, präziser gesagt zum „Reliefbild“.

Die Künstlerin selbst bezeichnet ihre Arbeiten als „Schnurcollagen“. Der Begriff der Collage, vom künstlerischen Prinzip eigentlich ein Produkt aus etwas Zerrissenem, das wieder zu einer neuen Formation zusammengefügt wird, ist im weitesten Sinne in Ingryda Suokaités Verständnis auch auf ihre Arbeiten anwendbar.

Schnur als „kunstfremdes“ Alltagsmaterial fand vermehrt erstmals bei den Dadaisten Verwendung. Besonders Hans Arp arbeitete in den zwanziger Jahren häufig mit der Schnur, indem er den Gegenstand im Bild statt durch eine gezeichnete Kontur mit einer Schnur darstellte. Großen Bekanntheitsgrad erlangte seine kleinformatige Arbeit Betrunkener Eierbecher von 1926. Aber auch jüngere Künstler, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts etwa Antoni Tàpies oder seit den 60er Jahren Wilhelm Müller, haben das Alltagsmaterial Schnur in ihre Kunstwerke integriert. Ingryda Suokaité kann sich mit dieser Materialästhetik in eine längere künstlerische Tradition stellen. Die Schnur jedenfalls ist wichtiges Medium in ihren Arbeiten, mehr noch, sie wird zum Prinzip ihrer Kunst und zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk, das sich in einem Balanceakt zwischen rationaler Ordnung und malerischer Freiheit, zwischen geometrischer Disziplin und Intuition bewegt. Das macht das Geheimnis der Schönheit ihrer Bilder aus.

Ursula Mosebach